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Professor Joseph Ki-Zerbo, ein engagierter afrikanischer Historiker

Der afrikanische Geschichtswissenschaftler Joseph Ki-Zerbo wurde am 21. Juni 1921 im damaligen Ober-Volta (dem heutigen Burkina-Faso) während der französischen Kolonialzeit geboren. Am 4. Dezember 2016 beging das Land seinen zehnten Todestag. Die Stiftung J. Ki-Zerbo für Geschichte und endogene Entwicklung (oder Entwicklung von innen heraus) (http://www.fondationki-zerbo.org) und die „Presses Universitaires de Ouagadougou“ haben zu diesem Anlass ein gemeinsames Werk unter dem Titel "Développement endogène de l’Afrique et mondialisation – une relecture de la pensée du Professeur Joseph Ki-Zerbo" (Innere Entwicklung Afrikas und Globalisierung – Eine Nachlese zu den Gedanken von Professor Joseph Ki-Zerbo) herausgegeben. Die unterschiedliche Herkunft der Autoren und der multidisziplinäre Ansatz des Werkes unterstreichen die Vielfalt der von J. Ki-Zerbo angestoßenen sozialen Studien. Dieses Werk zeigt einmal mehr, dass sich die Frage, ob J. Ki-Zerbo zu den großen Persönlichkeiten der afrikanischen Geschichte gehört, nicht mehr stellt – er gehört mit Sicherheit dazu. Eine der wichtigsten Fragen für seine Zeitgenossen ist eher, was J. Ki-Zerbo zu dieser Figur gemacht hat. Ihn unter diesem Aspekt in einigen Zeilen vorzustellen, ist sicherlich eine große intellektuelle Herausforderung. Es ist eine noble Aufgabe, es wenigstens zu versuchen, denn J. Ki-Zerbo hat nicht nur dazu beigetragen, die afrikanische Geschichtsschreibung zu revolutionieren, sondern hat auch durch sein politisches Engagement diese Geschichte Afrikas persönlich mitgestaltet.

Aufgewachsen in der Kultur des Samo-Volkes in Toma, besuchte J. Ki-Zerbo die Schule seines Dorfes und anschließend das Seminar der weißen Missionare, dessen gerühmte Ausbildungsqualität die Zeiten überdauert hat. Mit 27 Jahren, während er in der Kolonialverwaltung arbeitete, brachte ihn sein Wissensdurst dazu, die französische Abitur-Prüfung abzulegen. Das ermöglichte ihm die Aufnahme in die berühmte Universität Sorbonne in Paris im Jahr 1950, um dort zu studieren. Ki ZerboMit seinem Diplom in Politikwissenschaft legte J. Ki-Zerbo 1957 die Agregationsprüfung ab und wurde so der erste afrikanische Gymnasiallehrer für Geschichte. Er unterrichtete dann dieses Fach an Sekundarschulen in Dakar.  Dieses Fach wurde auch seine Hauptwaffe in allen seinen Auseinandersetzungen.

Joseph Ki-Zerbo ist einer der Begründer der heutigen afrikanischen Geschichtsschreibung und seine umfassende Bildung wird nicht mehr angezweifelt. In seinem 1972 erschienenen Werk "Histoire générale de l’Afrique Noire d’hier à demain" (Allgemeine Geschichte Schwarzafrikas, von gestern bis heute), das 1978 erneut aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, legte er deutlich dar, dass Afrika eine eigene Geschichte hat. Heute kann einem das banal vorkommen, aber man muss an die Ursprungszeit dieses Werks und an den geschichtlichen Kontext zurückdenken.

Als J. Ki-Zerbo Jahren seine "Agrégation" während der 1950er Jahre erhielt sowie noch bis in die 1960er Jahre, war afrikanische Geschichte ein Unding. Sie war lediglich ein Anhängsel der eurozentrischen Kolonialgeschichte. Die verbreitete Idee war, dass afrikanische Gesellschaften gar keine Geschichte haben, denn Geschichte beruhte auf schriftlichen Quellen. Da die Schrift erst ca. 3000 Jahre v. Chr. erfunden wurde, war die lange Geschichte der Menschheit vor dieser Zeit eben keine "Geschichte", sondern wurde als "Vorgeschichte" bezeichnet. Die Begründer der herausragenden ägyptischen Kultur der Antike hatten mit den schwarzen Afrikanern nichts zu tun. Da diese keine Schrift kannten, hatten sie auch keine Geschichte. Die Afrikaner waren "Naturvölker", sie standen auf der Schwelle zur Zivilisation, im Gegensatz zu den Weißen. Zusammengefasst waren dies die Schwierigkeiten, denen die ersten afrikanischen Geschichtswissenschaftler wie Cheik Anta Diop und Joseph Ki-Zerbo gegenüberstanden. Diese engagierten sich recht früh, um diese Probleme zu beseitigen: Es musste nicht nur die wissenschaftliche Wahrheit wiederhergestellt werden, sondern man musste auch den Afrikanern während und nach der Kolonisation das Vertrauen in ihre Geschichte wieder zurückgeben und die Überheblichkeit der kolonialen Beherrschung demaskieren.

Joseph Ki-Zerbo war als herausragender Historiker sicher einer der Vorreiter dieser Rückeroberung. Die Geschichte spielte dabei eine große Rolle. Er verstand, dass die Afrikaner wieder an sich und für sich denken mussten – und ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen. Für ihn galt, dass der, der nicht weiß, wo er herkommt, auch nicht weiß, wer er ist und von wo er ausgeht. Die Afrikaner, die auch eine kulturelle Kolonisation in dem Sinne erlebt hatten, dass sie in der Schule lernten, die Gallier seien ihre Vorfahren, mussten einfach wissen, wo sie herkamen. Für J. Ki-Zerbo war das der ganze Sinn der Geschichte, denn ohne sie würden sie ihre Identität verlieren. Er sagte später einmal: »Auf der Matratze der anderen zu liegen, bedeutet auf dem Boden zu schlafen«. Die Geschichte hat J. Ki-Zerbo gelehrt, dass sich die Afrikaner nur selbst helfen können. Er prägte das berühmte Wort: »Man entwickelt nicht jemanden, man entwickelt sich«.

Für diesen Pionier der afrikanischen Geschichte und so, wie sich die Geschichtswissenschaft damals darstellte, ging es also darum, einen neuen erkenntnistheoretischen Ansatz zu finden. Die Revolution in der Geschichtsschreibung, unterstützt von der Explosion der Wissenschaft im Europa des 19. Jahrhunderts, führte 1929 zur Gründung der "École des Annales" in Frankreich, einer Schule von Historikern, die sich besonders nach dem zweiten Weltkrieg als innovative wissenschaftliche Strömung durchsetzte und Träger dieser revolutionär neuen Geschichtsauffassung wurde. Als J. Ki-Zerbo 1957 der erste afrikanische Assistenzprofessor für Geschichte wurde, bewies er, dass er Geschichte wissenschaftlich beherrschte und dass er die neuen Methoden der Geschichtswissenschaft auf seine Studien in Afrika anwandte. Lebenslang bemühte er sich darum, die Geschichtlichkeit Afrikas unter Beweis zu stellen und die "Frühgeschichte" als Teil der Geschichte zu akzeptieren. Zusammen mit anderen Historikern, wie Jan Vansina mit seinem Werk "De la tradition orale" (Von der mündlichen Überlieferung" 1962), trug er dazu bei, die mündliche Überlieferung – trotz ihrer Einschränkungen – als Quelle für afrikanische Geschichte zu etablieren.

Die Arbeiten von J. Ki-Zerbo trugen maßgeblich dazu bei, die unwissenschaftlichen Thesen zu widerlegen, dass Afrika keine Geschichte habe und sie befreiten Afrikas Geschichte von rassistischen Vorurteilen, die mit der Beherrschung des Kontinents einhergingen. Der wissenschaftliche Ruhm von J. Ki-Zerbo führte dazu, dass er Mitglied des internationalen wissenschaftlichen Komitees der UNESCO für die Herausgabe einer allgemeinen Geschichte Afrikas wurde. Er leitete die Redaktion des ersten Bands: "Histoire générale de l’Afrique, Tome I: Méthodologie et préhistoire africaine" (Allgemeine Geschichte Afrikas, Band I: Methodologie und afrikanische Frühgeschichte), der 1986 erschien, und er arbeitete durch verschiedene persönliche Artikel und als Mit-Autor an den anderen Bänden dieses umfangreichen Werks mit. Diese Allgemeine Geschichte Afrikas von der UNESCO war von großem Wert für diese UN-Organisation, besonders im Hinblick auf das Projekt der Überarbeitung der Geschichte der wissenschaftlichen und kulturellen Entwicklung der Menschheit, an dem J. Ki-Zerbo auch mitgearbeitet hatte.

Das Bewusstsein Ki-Zerbos als afrikanischer Historiker trug wesentlich dazu bei, aus ihm einen Politiker zu machen. Bereits bei seiner Ankunft in Paris 1950 wirkte er an der Schaffung des Verbands der voltaischen Studenten in Frankreich mit, sowie des Verbands katholischer Studenten aus Afrika, den Antillen und Madagaskar. Als er Geschichtslehrer in Dakar war, gründete er 1958 mit seinen Kollegen eine Partei, die "Mouvement de la Libération Nationale (MLN)" (Nationale Befreiungsbewegung). Im gleichen Jahr 1958 war Charles de Gaulle Präsident von Frankreich und seine Politik richtete sich eigentlich gegen die Unabhängigkeit der französischen Kolonien in Afrika. Dennoch war er gezwungen, im September 1958 eine Volksbefragung über die Selbstbestimmung der afrikanischen Länder durchzuführen. Damals sprach sich nur Guinea unter der Leitung von Ahmed Sékou Touré für die Unabhängigkeit von Frankreich aus, was De Gaulle erzürnte und ihn veranlasste, sämtliche Beziehungen zwischen Frankreich und Guinea abzubrechen und das Land ohne materielle Unterstützung und qualifiziertes Personal praktisch hilflos zurückzulassen. Joseph Ki-Zerbo und seine Partei MLN kämpften damals ebenso für die Unabhängigkeit. Zu diesem entscheidenden Zeitpunkt beschloss er, sich mit anderen antikolonialistischen Kämpfern dem Helden der Unabhängigkeit Guineas anzuschließen und am Aufbau des Landes mitzuarbeiten. Er gab damit seine Privilegien als Kolonialbeamter auf und gefährdete seine vielversprechende berufliche Karriere an französischen Hochschulen.

Als Obervolta 1960 unabhängig wurde, kehrte Professor J. Ki-Zerbo in sein Heimatland zurück, um dort eine neue Verwaltung aufzubauen. Er arbeitete zunächst im Bildungswesen und beteiligte sich zum Beispiel am Zusammenschluss afrikanischer Universitäten durch Einrichtung des afrikanischen und madagassischen Rates für höhere Bildung (CAMES), der heute noch für die Bewertung und Förderung afrikanischer Dozenten und Forscher zuständig ist.

Gleichzeitig führte er seine politischen Aktivitäten fort, aber Maurice Yaméogo, der erste Präsident des unabhängigen Obervolta, hatte schon 1959 mit der Einführung eines Einparteien-Systems begonnen. Die MLN, die Partei Ki-Zerbos, verbarg sich im Untergrund bis zum Sturz des Präsidenten am 3. Januar 1966 durch eine Volksbewegung, an der J. Ki-Zerbo wesentlich beteiligt war. Nach dem Sturz von Yaméogo trat die MLN wieder an die Öffentlichkeit, aber das Parteiensystem wurde durch verschiedene Militärputsche immer wieder durcheinandergewirbelt. Als die MLN 1970 wieder die Bühne betrat, wurde aus ihr die "Union Progressiste Voltaïque (UPV)" und bei den Wahlen 1978 die "Front Progressiste Voltaïque (FPV)". Seine politischen Gegner beschimpften J. Ki-Zerbo vor den Wählern als Kommunist, während er sich als afrikanischer Sozialist und später als Sozialdemokrat verstand. Das Ganze brachte ihm jedoch Vorurteile ein. Die letzten Tage seines Kampfes widmete J. Ki-Zerbo den Bewegungen für Menschenrechte und zahlreichen Verbänden für eine zivile Gesellschaft.

Anlässlich des Mordes am Journalisten Norbert Zongo im Dezember 1998 verhielt sich J. Ki-Zerbo beispielgebend. Damals lernte besonders die Jugend des Landes den Politiker in ihm kennen: einen echten Volkstribun. Obwohl er sich selbst als "bettlägerig" bezeichnete, war er bei allen politischen Kämpfen für eine Zivilgesellschaft und Parteiveranstaltungen für eine Wiederherstellung der Demokratie in seinem Land dabei. Weder Gefängnis noch die seelische Folter konnten seinen Willen brechen. Er hatte bereits 1975 verstanden, dass es ohne eine starke Zivilgesellschaft in Afrika keine Hoffnung auf einen politischen Wandel in Afrika gab, einem Kontinent mit "demokratischen Azubis" an der Macht. Bis wenige Tage vor seinem Tod nahm J. Ki-Zerbo stets am politischen Geschehen teil.

Das Schicksal bestimmte, dass J. Ki-Zerbo stets auf der Seite der Opposition kämpfte. Für Politik-Laien mag dies unverständlich erscheinen, denn er folgte keinem Aufruf, sich an einer Regierung zu beteiligen. Seine Position war für ihn stets das Ergebnis seines Gewissens, das auf seiner Ausbildung, seinen politischen, moralischen und religiösen Prinzipien beruhte. Selbst wenn die Parteien, für die er kämpfte, von den aktuellen Machthabern "aufgefressen" wurden, gelang es ihm stets, sich durch seine Wendigkeit, wenn auch geschwächt, wieder aufzurichten und sich an den internen politischen Debatten zu beteiligen.

Das politische Engagement und die geistigen Arbeiten von J. Ki-Zerbo über Bildung, Demokratie und eigenständige Entwicklung in Afrika zeigen, dass seine Ziele weit über das Erringen politischer Pfründe hinausgingen. Für ihn, der die Zerstörung der afrikanischen Identität so hautnah miterlebt hatte, war geistige Unabhängigkeit wesentlich. Wie hätte er es also zulassen können, sich selbst zu verleugnen innerhalb einer Regierung, die von unausgebildeten Anti-Demokraten geleitet wurde und die ihn nur kontrollieren, kompromittieren und unschädlich machen wollten? Sein Ziel war es, aktiv an der Schaffung einer Demokratie mit Beteiligung und Wettbewerb mitzuarbeiten, die die Synergien erzeugt, die für eine eigenständige Entwicklung notwendig sind. Seine politischen Ziele waren vor allem "panafrikanisch". Er hatte verstanden und gelehrt – wie sein Genosse Kwame Nkrumah –, dass die unabhängigen Kleinstaaten Afrikas im Umfeld der neoliberalen Globalisierung nur in einem größeren Zusammenhang wirtschaftlich überleben können. Seine Arbeiten und sein Einsatz für die Entwicklung Afrikas haben ihm mehrere internationale Preise eingebracht, darunter 1997 auch den alternativen Nobelpreis (Right Livelihood Award). Die größte Universität Burkina-Fasos trägt inzwischen seinen Namen: "Université Ouaga 1 Professeur Joseph Ki-Zerbo".

Eine analytische Beschäftigung mit den Werken J. Ki-Zerbos, eher als seine ideologische Vorverurteilung, trägt vielleicht dazu bei, die "köstlichsten" Inhalte seiner Arbeiten zu entdecken.

Dr. Yacouba Banhoro, Juniorprofessor für Gegenwartsgeschichte am Institut für Geschichte und Archäologie der Universität Oagadougou 1 Prof. Joseph Ki-Zerbo

Übersetzung: Tilman V. Berger