Historische politische Ungerechtigkeiten gegenüber den Muslimen: Wenn die soziale Realität die Wahrnehmung relativiert oder ihr widerspricht

Wenn es auch stimmt, dass Burkina Faso ein Land ist, in dem die meisten Einwohner Muslime sind, dann muss man auch betonen, dass dieses Phänomen ein relativ junges ist, denn die meisten Anhänger des Islam bilden bestenfalls die dritte Muslim-Generation in ihren Familien. Außer bei den Dafings, den Markas, den Peuls und den Yarsés (4 von 66 ethnischen Gemeinschaften im Land) ist der Übertritt einer großen Mehrheit von Burkinabè zum Islam ein Phänomen, das erst drei oder vier Jahrzehnte alt ist.

Wenn man, um die historische Ungerechtigkeit anzuprangern, die Anzahl der muslimischen Staatschefs geltend macht, dann ist das ein Zeichen für eine bedauerliche Unwissenheit oder für den Willen, diese Religion für Ziele, die man nicht offen aussprechen will, zu instrumentalisieren. Da die westlich geprägte Schule in unserem Land die Institution war, die die herrschende Klasse hervorbringen oder reproduzieren sollte, während die meisten Muslime ihre Kinder nicht in diese Schule schicken wollte (oder es immer noch nicht will), ist die logische Folge davon, dass Muslime in der Verwaltung unterrepräsentiert sind. Deshalb sind sie es auch in den führenden Eliten der Zivilgesellschaft, der politischen Parteien, der Medien, der Gewerkschaften usw. Diese Milieus bilden aber nun mal den Nährboden, aus dem sich diejenigen, die uns regieren, rekrutieren.

Wenn auch der Staat, als Ausdruck des allgemeinen Willens, immer weiter daran arbeiten muss, die Muslime für die westlich geprägte Schule zu interessieren, so ist es doch nicht richtig, alleine ihn für die oben beschriebene Situation verantwortlich zu machen, und noch weniger richtig, den Christen im Land das Los, das heute das der Muslime ist, zuzuweisen.

In der Republik steht die Zugehörigkeit zur Nation über der zur Religion, zur Ethnie und zur Region

Im Senegal, wo mindestens 90 % der Bürger Muslime sind, hat es die Bevölkerung (und nicht zuletzt die religiösen Führer) verstanden, westlich geprägte Bildung, Koranunterricht und lokale Traditionen miteinander zu verbinden. Das sollte uns ein Vorbild sein. Abgesehen davon ist die Zugehörigkeit zu einer Religion, zu einer Ethnie oder einer Region eine zweite, dritte oder vierte Identität. Die erste Identität ist die, einem Staat , einer Nationalität und einem Land anzugehören. Mit anderen Worten: Wir sind zuerst einmal Staatsbürger, bevor wir dieser oder jener sozio-ethnischen Gruppe, dieser oder jener Religion, dieser oder jener Region angehören. Unser Grundgesetz, d.h. unsere Verfassung, regelt das klar und eindeutig solange, bis das Volk entscheidet, sie zu ändern, oder wenn die Herrschenden sich entschließen, sie beizubehalten und gleichzeitig aus politischen und/oder wirtschaftlichen Gründen gegen ihre Bestimmungen zu verstoßen, so wie das fast schon der Fall ist.

Ganz offensichtlich widerspricht diese Mixtur aus Religion, Panafrikanismus, demagogischer Politik, wirtschaftlichen Interessen, Beschränkung von Freiheiten und immer neuen Verlängerungen unserer derzeitigen „Übergangsphase“ dem demokratischen und liberalen Rechtsstaat. Als „Übergangsphase“ müsste sie die Ausnahme sein und die Regel ein Regime mit echter demokratischer Legitimität, das aus einem transparenten, gerechten und fairen Wahlprozess hervorgegangen ist. Die Ausnahme muss also beendet werden, damit die Regel zu ihrem Recht kommt. Da außerdem der Zeitplan für den Übergang von der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (CEDEAO) ausgearbeitet und angenommen worden ist, ist seine Beachtung das Wenigste, was man tun sollte, es sei denn, es gäbe einen internen Willensbildungsprozess unter Beteiligung aller relevanten Gruppen, um einen Vertrag auszuhandeln, der das endgültige Datum für demokratische Wahlen nach hinten verschiebt.

Wenn der politische Wille vorhanden ist, können die Wahlen im Juli 2024 abgehalten werden

Auf jeden Fall haben MPSR 1 („Mouvement patriotique pour la sauvegarde et la restauration“) und MPSR 2 gezeigt, dass Ausnahmeregierungen nicht das Allheilmittel für unsere aktuelle und zugleich chronische Sicherheitskrise sind. Demzufolge ist es unbedingt erforderlich, intern und mit unseren Partnern die Möglichkeiten zu suchen und zu prüfen, wie wir – trotz der Sicherheitskrise – zu einer neuen demokratischen Ordnung zurückfinden können und uns dabei auf die Regierungserfahrungen des MPP („Mouvement du peuple pour le progrès“) und von MPSR1 stützen.

Das ist möglich, sofern der politische Wille dafür vorhanden ist, denn das Phänomen der Binnenflüchtlinge hat zu einer dramatischen Verringerung der Zahl der Landbewohner und zu einer geänderten räumlichen Verteilung der Bevölkerung durch die Vergrößerung der Städte in Fläche und Einwohnerzahl geführt. In diesen Städten gibt es eine, wenn auch eingeschränkte, Sicherheit. Deshalb kann man sehr wohl einen Wahlkalender ausarbeiten und umsetzen. Hinzu kommt, dass die Professionalisierung der Sicherheitskräfte und der Freiwilligenverbände, der Erwerb effizienterer Waffen, die militärischen Operationen in Mali und im Niger sowie die Konflikte unter den bewaffneten terroristischen Gruppen mehr Sicherheit bieten für freie, demokratische und transparente Wahlen.

Wenn wir das nicht ins Auge fassen, dann könnten wir ungeheuerliche Tage in der Zukunft erleben, die in niemandes Interesse sind. Das stimmt umso mehr, als die menschlichen Gesellschaften, ob sie sich nun in einer Krisensituation befinden oder nicht, sich zu einem gegebenen Zeitpunkt ihrer Geschichte unabhängig vom Bewusstsein und den Interessen der Individuen selbst regulieren. Ja, sie sind sogar umso mehr dazu bereit, sich selbst zu regulieren, je mehr sie sich in einer Krisensituation befinden.

Ibrahim TRAORE de Boromo, 11. Juni 2023 in Netafrique

Übersetzung: Mathias Wolbers