Der Staatskrise ins Auge sehen
Burkina Faso ist in einer existentiellen Krise. Sichtbarster Auslöser ist der Terror islamistischer Gruppierungen, der den Norden und Osten des Landes überzieht und nach Süden in die Küstenländer ausgreift. Die von Frankreich angeführte Militärhilfe, an der auch die Bundesrepublik Deutschland beteiligt ist, hat es nicht vermocht, die Lage in den Sahelländem Burkina, Mali und Niger zu stabilisieren. Auch die Aufstockung der Entwicklungs- und Nothilfe hat keine wesentliche Veränderung bewirkt. Das strategische Dilemma angesichts eines drohenden „Sahelistan“ ist mit Händen zu greifen.
In dieser Lage hat sich im Frühjahr eine Gruppe von Wissenschaftler*innen aus der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD), der größten einschlägigen Berufsorganisation, zusammengefunden, eine kritische Situationsanalyse ausgearbeitet und Vorschläge für eine andere Strategie vorgelegt, die das Ausgreifen des offenen Staatszerfalls wenigstens auf Burkina Faso verhindern kann. Die Gruppe hat sich dabei zunutze gemacht, dass es zu wesentlichen Ursachenkomplexen – zum Beispielen den Landkonflikten oder dem Aufkommen von Milizen – recht breite wissenschaftliche Forschung gibt, auf deren Ergebnisse man sich stützen kann. Alle Mitglieder der Gruppe haben selbst lange in Burkina Faso (oder in Mali) gearbeitet. Der VAD-Vorstand hat auf dieser Grundlage eine öffentliche Erklärung verfasst, die zusammen mit dem Konzeptpapier hier nachzulesen ist:/. Die Initiative richtet sich vorrangig an Bundesregierung und Bundestag. Die Arbeitsgruppe hat das Konzeptpapier aber in einer französischen Übersetzung akademischen Kollegen in Ouagadougou, Bamako und anderen Orts in Afrika vorgelegt, um ihre Bewertungen einzuholen. Eine angemessene Auswertung der vielen Rückmeldungen steht noch aus, aber eines ist sicher: Fast keiner unserer Gesprächspartner vor Ort hat Analyse und Vorschläge für überzogen erklärt. Die Ereignisse in Mali haben diese Stellungnahmen nun sowohl bestätigt wie auch überholt, weswegen die VAD-AG jetzt über ein zweites Papier nachdenkt.
Die offene Staatskrise in Burkina Faso und den Nachbarländern verlangt tatsächlich nach großen Lösungen. Das spricht überhaupt nicht gegen die kleinen, manchmal gar nicht so kleinen Hilfen im lokalen Maßstab, von denen die Mitteilungen der DBFG regelmäßig berichten und für die sich ein Großteil der Mitglieder engagiert. Meine Frau und ich haben schon 1986 den Ertrag einer Kollekte anlässlich unserer Hochzeit in eine Schule im armen Herkunftsdorf des heutigen Premierministers Christoph Dabiré investiert, finden das immer noch richtig und hoffen, dass wenigstens diese Schule (im Dagara-Gebiet) noch geöffnet ist, obwohl seine Regierung wenig dafür tut. Gerade wo der Staat es aufgegeben hat, flächendeckend soziale Grundversorgung anzubieten, geschweige denn innovative Hilfen zur Arbeitsbeschaffung, kann privates Engagement nicht falsch sein. Das große Gegenargument der Ökonomen ist bekannt: Geld ist fungibel, und so kann jede kleine oder große Hilfe von außen dazu führen, dass die Regierung ihre frei verfügbaren Steuergelder anders investiert, zum Beispiel in Militärausgaben. Das schlaue Argument der Fungibilität von Haushaltsmitteln zählt allerdings nicht in Ländern wie Burkina Faso, in denen der Staat ohnehin seinen Pflichten nicht nachkommen würde. Es würde schlicht nichts geschehen. Soweit ist also alles richtig.
Nicht richtig aber ist es, wenn sich in einem zerfallenden Staat die ganze Aufmerksamkeit nur auf die tausend Blumen der ehrenamtlichen Hilfe richtet, die sich als eigentliche Parallelwelt etabliert, während „die Politik“, die grassierende Korruption und ihre verheerenden Folgen so gut es geht ignoriert werden. Genau das scheint auf der jüngsten Mitgliederversammlung der DBFG geschehen zu sein. Nach einem sachlich vollkommen angemessenen Vortrag des DBFG-Vorsitzenden über die kritische Lage im Land heißt es im Burkina-Info Nr. 1 – 2020 weiter:
„In der Diskussion wurde festgestellt, dass -wir in Deutschland die Situation wohl dramatischer sehen als unsere Partnerinnen in Burkina Faso, weil wir sehr von den vor allem negativen Nachrichten beeinflusst werden und das tägliche Leben, das die Burkiner-innen so weit wie möglich normal gestalten, nicht miterleben. Auf jeden Fall war sich die Runde einig, dass unsere Arbeit und die Unterstützung unserer Partnerinnen in Burkina Faso weitergehen muss.”
„Wir in Deutschland“ – wer immer das ist – sehen uns also aufgefordert, nicht in Panikmache zu verfallen. Auch wenn ich nicht zu den Afro-Pessimisten gehöre, hat mich dieses Resümee der Versammlung einigermaßen fassungslos zurückgelassen. Es kommt einer Realitätsverweigerung gleich. Tatsächlich kann es als gut etablierte Regel des öffentlichen Lebens gelten, auch bei uns im Lande: Wo vor sog. falscher Panikmache gewarnt wird, muss meist ein so gravierendes Problem vorliegen, dass das kollektive Bewusstsein die Annahme verweigert. Einen solchen Fall habe ich selbst in den Jahren 1991 bis 1994 erlebt, als sich in Ruanda vor aller Augen und Ohren ein Massenmord an den Tutsi und der gesamten Opposition vorbereitete. In dieser Lage war der damalige deutsche Botschafter in Kigali geradezu die Inkarnation der Warnung vor Panikmache, von einem Teil der älteren GTZ-Kollegen gern ergänzt mit dem Kommentar, dass „der Ruander“ ja an und für sich friedfertig sei. Auch damals waren die Massaker schon im Gange und Teile des Landes gar nicht mehr zugänglich. Die Folgen sind bekannt, und bis heute hat die deutsche Politik ihre Rolle in diesen Jahren nicht aufgearbeitet – auch damals eine Nebenrolle im Vergleich zu Frankreich, aber nicht weniger verhängnisvoll.
Sicher, zum Zeitpunkt der DBFG-Mitgliederversammlung waren die VAD-Stellungnahme und das zugrunde liegende Papier noch nicht veröffentlicht. Aber die Fakten lagen auf dem Tisch, und seither hat sich die Evidenz für Burkina Faso, Mali und Niger durch detaillierte Berichte von Menschenrechts-Organisationen immer mehr verdichtet, wonach Militär und regierungstreue Milizen Massaker vornehmen, die nun auch in diesen Ländern eine klare ethnische Ausrichtung haben, während sich höchste Kreise des Staates schnell noch an den westlichen Hilfen bereichern.
» Es muss ein gravierendes Problem vorliegen, dass das kollektive Bewusstsein die Annahme verweigert. «
Das offizielle europäische und deutsche Agieren nach Art eines um Militärhilfe ergänzten Business as usual ist also unhaltbar. Nicht umsonst sprechen unsere burkinischen Freunde von der „Omertà“ der Botschaften in Ouagadougou – ein Wort, das dem deutschen und europäischen diplomatischen Dienst schwer zu denken geben sollte. Unsere VAD-Arbeitsgruppe ist mit dem Auswärtigen Amt im Gespräch und auch mit Abgeordneten der demokratischen Parteien, aber ein Strategiewechsel zeichnet sich noch nicht ab. Die G5-Sahel-Strategie ist es jedenfalls nicht. Normale Regierungsverhandlungen zwischen Deutschland und Burkina abzuhalten wie jetzt im September ist nachgerade surrealistisch. Man muss das Protokoll der Verhandlungen gar nicht kennen, um zu wissen, dass neben den üblichen Hilfezusagen auch ernste Mahnungen zur Beachtung der Menschenrechte, Good Governance und natürlich zu fairen Wahlen im November übermittelt worden sind. Nur, der deutschen Delegation saß keine Regierungsseite gegenüber, die solche Ermahnungen umsetzen könnte oder wollte. Das Staatsgebiet ist auseinandergefallen, in weiten Teilen haben die staatlichen Strukturen wenig zu tun oder zu sagen. In fünf Regionen wird der Wahlgang im November nicht möglich sein – abgesehen davon, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Partei-Gruppierungen im Vorfeld inhaltlich fast nichts von der wahren Krise reflektieren, wie jüngst u.a. ein detaillierter Bericht in Africa Confidential gezeigt hat.
Sicher, bis ganze Staaten wirklich zerfallen, muss eine Menge geschehen, und bis dahin geht für viele das gewohnte tägliche Leben weiter. Auch im Auswärtigen Amt spricht man von Staaten-Resilienz und betonte noch im Mai in einer Drucksache für den Bundestag, auch Mali sei gar kein failed state. Es wird interessant sein zu erfahren, wie man das jetzt im Amt sieht. Ruanda war im April 1994 noch ein relativ gut funktionierender Polizeistaat und zerfiel doch binnen Wochen.
Was also dann? Unser angedachter Lösungsvorschlag ist oft missverstanden worden. Erwartbar wurde er auch im Sinne des „Bonner Aufrufs“, der seit Jahren der klassischen EZ den Prozess macht, gegen den Strich gelesen. Wir haben uns gerade nicht für eine simple Vervielfachung der konventionellen staatlichen Entwicklungshilfe ausgesprochen. Es gibt keine wissenschaftlich gedeckte Evidenz, dass die offizielle Hilfe jetzigen Typs eine stabilisierende Wirkung haben kann. Auch der sogenannte Vernetzte Ansatz von ziviler und militärischer Hilfe funktioniert im Sahel nirgendwo, und das behauptet auch niemand (mehr), den wir aus Kreisen der Bundeswehr darauf angesprochen haben.
Unser Vorschlag knüpft an eine allen in der DBFG bestens bekannte Tatsache an: es gibt in Burkina Faso (wie auch in Mali) eine enorm reiche, vielgestaltige und diskursfähige Zivilgesellschaft, sowohl in laizistischen wie in religiösen Organisationen. Es gibt auch eine zur Staatskrise sprechfähige Academia. Deren Vorschläge, wie die zentrifugalen Kräfte der burkinischen Gesellschaft wieder zueinander finden können, müssen ausschlaggebend sein. Ein entscheidendes Argument zu Beginn unserer VAD-Initiative war, dass die Chancen, den Staat beisammen zu halten und einen zielgerichteten nationalen Dialog wiederzubeleben, in Burkina Faso immerhin besser als in Mali stehen. Das hat sich ex negativo bewahrheitet. Positiv hat es unseren Fokus auf Burkina Faso motiviert, dass interethnischer Dialog trotz der Mossi-Dominanz historisch immer stattgefunden hat und im Staatsapparat auch viele gutwillige Menschen zu finden sind.
Der springende Punkt aber ist: Nur eine weitere Runde von Nationalem Dialog, eine weitere Nationalkonferenz einzuberufen, die unter Aufbietung aller nicht kompromittierten Autoritäten zum Frieden und zur Aussöhnung auch mit den Islamisten aufruft, mit denen man noch reden kann, all das wird per se nur geringe Hoffnungen erwecken. Wie sollen denn die Schulen, Gesundheitsstationen etc. wieder eröffnet werden, was soll den Jugend-lichen angeboten werden, die man den pekuniären Verlockungen der Islamisten entziehen will? Das geht weder aus dem geplünderten Staatshaushalt, noch mit normalen Projektmitteln.
» Den Eliten der Länder wirtschaftliche Perspektiven unabhängig von Korruption und Kriegsgewinnen bieten.
Hier setzt unser Vorschlag des „Whatever it takes“ ein: wenn eine Nationalkonferenz neuen Typs beschließt, zur wirtschaftlichen Unterfütterung eines Friedensangebotes benötigen wir in allen betroffenen Regionen zeitgleich die Programme A, B und C, die von gemischten Friedenskomitees und verlässlichen Bürgermeistern verwaltet werden, dann sollten wir als Bundesrepublik bereit sein, das auch in der ganzen Breite und Weite des Landes zu unterstützen. Wenn wir in unserem eigenen Land Flüchtlingsintegration ganz gut „schaffen“, wenn wir flächendeckende Corona-Hilfen hinbekommen, dann sollte uns diese Hilfe auch gelingen. Also, nicht wir Deutsche sagen, was für Burkina Faso gut ist, sondern wir unterstützen, was die burkinische Gesellschaft selbst für vorrangig hält. Vorschläge dazu darf man immerhin machen, und die stehen in unserem Papier. Der Bundestagsabgeordnete Kekeritz hat in einer Anfrage an die Bundesregierung ergänzt, dass dazu auch ein bedingungsloses Grundeinkommen für die notleidende Million von Binnenflüchtlingen gehören sollte. Ich ergänze: Erfahrungen mit unconditional cash transfers sind in der Entwicklungshilfe und in der Sozialpolitik von Entwicklungsländern zur Abwechslung tatsächlich eher positiv.
Eine solche Paketlösung hat eine ganze Reihe von Implikationen. Ich möchte abschließend zwei davon erwähnen.
Schon im April habe ich im Peacelab Blog des Berliner Global Public Policy Institute darauf hingewiesen, dass eine politische Gesamtlösung auch den führenden Schichten ein alternatives Angebot machen und andere Politikfelder einbeziehen muss:
„Das funktioniert nur, wenn den Eliten der Länder wirtschaftliche Perspektiven unabhängig von Korruption und Kriegsgewinnen geboten werden, etwa eine konkurrenzfähige Baumwollwirtschaft, andere Zweige moderner Exportlandwirtschaft, ein wiederbelebter Tourismus oder ein neu organisierter Goldbergbau. Das setzt wiederum voraus, dass die EU ihre Handels- und ihre Migrationspolitik ändert. Es muss darum gehen, auch der Mittel- und Oberschicht andere Perspektiven zu geben, als ihre Länder auszuplündern. Das ist unsere Idee, wie ein „Sahelistan“ verhindert werden könnte. Von den Gesprächspartnern in den Sahelländen, bei denen wir uns Rat geholt haben, hat kein einziger gesagt, dass das völlig aussichtslos ist. Alle haben gesagt, eine große Lösung dieser Art bräuchte es.
Außerdem richtet sich diese Initiative nicht gegen Frankreich (oder die EU). Am Ausgangspunkt standen vielmehr vielfältige Informationen aus dem politischen Paris, von Kräften vor Ort und selbst aus der französischen Politikwissenschaft, denen zufolge wenigstens ein Teil des französischen Regierungsapparats eine andere Arbeitsteilung wünscht, in der Frankreich nicht überall in einer riskanten Führungsrolle ist und sich zum Dank „La France – dégage!“ anhören muss. Absprachen mit Frankreich und anderen Partnerländern sind zwingend notwendig, sollten aber nicht das entscheidende Hindernis für ein anderes deutsches Engagement sein.
Helmut Asche
Prof. Dr. Helmut Asche ist Hochschullehrer im Ruhestand und lehrte an den Universitäten Leipzig und Mainz Entwicklungsökonomie und Afrikastudien. Ergibt hier seine persönliche Meinung wieder; die nicht unbedingt den Ansichten der im Text angesprochenen Arbeitsgruppe der VAD entspricht.